„Kannst du mit in den OP kommen? Es gibt wohl ein Problem.“ Mühsam wühle ich mich unter dem Moskitonetz hervor, greife nach der Stirnlampe und tappe zur Tür. So hatte ich mir meine erste Nacht in Kenia nicht vorgestellt. Draußen stehen schon die anderen Mitglieder unserer Reisegruppe, allesamt Mitarbeiter/innen der Nils-Steensen-Kliniken in Osnabrück.
Nach 26 stündiger Anreise waren wir im Holy Family Hospital Nangina im Nordwesten Kenias dicht am Viktoriasee angekommen. Das 100 Betten Haus war zu Beginn der sechziger Jahre zur Basisversorgung (Malaria, Entbindungen und chirurgische Notfälle) der ärmlichen Bevölkerung gegründet worden. Der Nangina e.V. unterstützt dieses Krankenhaus schon seit Jahren großzügig mit Investitionen. Der Träger der Einrichtung, Bischof Norman Wambua, der Bischof der Diözese von Bungoma, hatte die Nils-Steensen-Kliniken um Unterstützung gebeten, das Krankenhaus durch die Einführung moderner Therapieverfahren auf einen zeitgemäßen Stand zu bringen und so eine verbesserte Versorgung der Bevölkerung zu ermöglichen. So sind wir nun als „Sondierungstrupp“ hier angekommen. Gleich nach unserer Ankunft wurden wir im Rahmen einer Klinikkonferenz vorgestellt und das Programm der kommenden Tage mit Besichtigung sämtlicher Abteilungen des Krankenhauses abgesteckt. Einem jungen Ärztepaar aus Rotterdam, das hier seit einem Jahr Dienst tut, hatten wir angeboten, uns bei Notfällen dazu zu rufen.
So stehen wir jetzt bei spärlicher Beleuchtung vor einer 19 jährigen Frau mit heftigen Unterbauchschmerzen bei der sofort eine Operation notwendig ist. Es gibt keine Blutuntersuchungen, kein EKG und erst recht keinen Narkosearzt. Mit vereinten Kräften kann die OP nach kurzer Zeit erfolgreich beendet werden.
Ohne große Eingewöhnungszeit sind wir so mitten im Problem angekommen und schnell wird klar: Wie bei uns in Deutschland funktioniert es hier nicht und wir müssen sehen: was ist mit Vorhandenem machbar, was kann daran verbessert und ergänzt werden.
Die Nachtruhe ist kurz. Um 8 Uhr führt uns die Verwaltungsleiterin, Mrs. Odongo, durch das gesamte Hospital um einen möglichst genauen Eindruck zu gewinnen. Wir sprechen mit etlichen Mitarbeitern, einige machen einen hochmotivierten Eindruck, andere lassen sich eher mitziehen. Guter und sehr guter Eindruck von Labor und AIDS Ambulanz, dringend überholungsbedürftig ist die Röntgenanlage. Letztendlich findet sich in fast jedem Bereich Handlungsbedarf. Probleme und Lösungsmöglichkeiten werden diskutiert und verworfen. Catherine, die Frau von Dr. Klaus Flohr ist selbst Kenianerin aber lebt seit Jahren in Deutschland, ist als Dolmetscher maximal gefordert. Sie wirbelt zwischen Englisch, Deutsch und Kisuaheli (alles nicht ihre Muttersprache) hin und her, und ist unersetzlich, wenn sich mentalitätsbedingte Missverständnisse anbahnen.
Der Operationsbereich ist ein besonderes Problem. Derzeit können dort guten Gewissens eigentlich nur Notfalloperationen durchgeführt werden. Für geplante Operationen ist der Standard zu schlecht. Durch eine Verbesserung der Narkosemöglichkeiten, der Hygiene und Sterilität sowie der Instrumente würden auch solche Operationen möglich und damit das Krankenhaus in die Lage versetzt, die Versorgung der Bevölkerung deutlich zu verbessern. Und für diese ist die Behandlung in einem entfernteren, möglicherweise besser ausgestatteten Krankenhaus schon aufgrund der Transportkosten utopisch.
Zwischendurch kommt es für uns immer wieder zu akutem Einsatz am Patienten: Zwillingsgeburt, Säuglings-Wiederbelebung, Kaiserschnitt. Der Verbandswechsel eines schwer verbrannten Kinderarms bei ungeeigneten Verbandsmaterialien wird zur Tortur.
Einen Tag vor unserer Rückreise nach Nairobi treffen wir Bischof Norman Wambua im Bildungszentrum St. Patrick im ca. 50 km entfernten Bungoma. Der Bischof ist ein 61 jähriger großer drahtiger Mann, freundlich und zugewandt, der in der folgenden Diskussion durch seine Detailkenntnisse des Krankenhauses überrascht. Es geht ihm um Wissensvermittlung und unser personelles Engagement vor Ort. Er hält das Hospital nur für überlebensfähig, wenn es sich durch seine eigenen Einkünfte tragen kann. Diese können werden jedoch nur durch bessere Behandlungsangebote erzielt werden.
Gemeinsam diskutieren wir wie es weitergehen soll. Der Bischof notiert sich unsere Vorschläge und bedankt sich bei uns für unser Engagement. Seinen Mitarbeitern gibt er mit auf den Weg, uns bei unserem Vorhaben mit voller Kraft zu unterstützen:“ …I mean by a hundred percent!“
Was bleibt? Das Gefühl, mit relativ geringem Einsatz einiges bewegen zu können. Das Bewusstsein, dass Menschen etwas bewegen wollen und dabei auf unsere Partnerschaft vertrauen.
Zum Schluss meinen Dank an das Team und meine Bewunderung für die Kompetenz und Umsicht, mit der jeder die Probleme seines Faches anging. Menschliches Leid nicht oder nur unzureichend lindern zu können ist belastend, daran ändern auch viele Jahre Berufserfahrung nichts. Menschen zu haben, mit denen man sich versteht und mit denen man abends reden kann ist für den Erfolg eines solchen Unternehmens sicher genauso wichtig wie ausreichend Malariamittel.
Guido Hafer, Unfallchirurg am Christliches Klinikum Melle