Mittwoch 30.11.2022
Heute liegt ein langer Tag vor uns. Wir werden eine Berufsschule und zwei weitere Rehabilitierungszentren von Napenda Kuishi besuchen. Danach steht ein Besuch beim Comboni Health Programe an.
Wir besuchen als erstes die Berufsschule des Programms, bei der wir jährlich die Schulgebühren für die Schüler übernehmen. Die meisten der 40 Schüler haben vor zwei Jahren noch drogenabhängig, ohne feste Bleibe, im Slum gelebt, bis sie dann durch Napenda Kuishi‘s zwei-jähriges Rehabiltierungsprogramm aufgefangen wurden. Wenn man sich das vor Augen führt, sind die jungen Männer, auf die man trifft, umso erstaunlicher. Die Lehrer haben gerade Staff-Meeting, die Schüler sind alleine in den Klassenräumen. Als wir reinkommen ist Totenstille, alle sitzen konzentriert an ihren Heften und lernen. Nächste Woche sind für sie Examen und jeder von ihnen will zu den 95% derjenigen gehören, die die Prüfungen an der Berufsschule jährlich bestehen.
An der Berufsschule werden die Jungs unter anderem als Klempner, Elektriker oder Schreiner ausgebildet. In ihrem Jahr hier lernen sie einen Lebenslauf zu schreiben und wie man sich in Bewerbungsgesprächen präsentiert. Sie haben sogar einen Computerraum um den Umgang mit PCs zu lernen. Stolz erzählt uns Maurizio, dass seine Berufsschule schon nach zwei Jahren offiziell vom Staat anerkannt wurde um Prüfungen abzulegen. Heißt: die Schüler können die staatlich anerkannten Prüfungen an dem Ort machen, an dem sie das letzte Jahr über gelebt haben. Er erzählt uns auch, dass er mit seinem Programm einer der ganz wenigen ist, die sich um junge erwachsene Männer kümmert. Viele NGOs würden sich auf Kinder konzentrieren und sich nicht an diejenigen herantrauen, die wirklich schon Jahre in Kriminalität gelebt haben. Sein erfolgreiches Programm ist aber der Beweis, dass selbst Menschen, die ganz unten angekommen sind, ihr Leben in den Griff bekommen können, wenn man ihnen nur eine Perspektive bietet. Mehr über die Berufsschule gibt es hier zu lesen.
Es geht weiter. Durch den Slum zu zwei weiteren Rehabilitierungszentren. Auch der Slum hier hat sowas wie Hauptstraßen, welche alle in den letzten Jahren gebaut wurden. Als Wittener fühle ich mich regelrecht verwöhnt, auf einer Straße ohne Schlaglöcher unterwegs zu sein. Wäre hier nicht alles voll mit Kamikazefahrern, ließe sich richtig entspannt Auto fahren. Lässt es sich aber nicht. Es wird links überholt, es wird rechts überholt. Mopedfahrer tragen unglaubliche Lasten hinten auf ihren motorisierten Zweirädern, dass man Angst bekommt, dass sie gleich umfallen. Ein Schaf macht sich am Straßenrand auf, auf die Straße zu laufen, keiner bremst, es dreht im letzten Moment ab. Alle paar hundert Meter bremsen wir plötzlich wegen eines Bremshügels. So fahren wir durch den Slum Korogocho, in eine seiner gefährlichsten Gegenden. Die geteerten Hauptstraßen sind gesäumt von kleinen Wellblechgeschäften. Es wird Obst verkauft, alte, ordentlich sortierte Elektronik, Schuhe, Kleider. Es gibt Friseure, Kiosks, Reifen- und Möbelhändler und an jeder Ecke Shops, wo man sein Internetkonto mit „mPesa“, aufladen kann, mit denen die Menschen in Kenia fast alles bezahlen. Eine Innenstadt, um deren Aussterben man nicht besorgt ist. Auch was Neues.
Von der Hauptstraße führen immer wieder kleine Gassen in das Labyrinth der Wellblechhütten, zwischendurch tauchen ein paar kleinere Hochhäuser auf. Am Straßenrand laufen Kühe, Schafe, Hühner und Enten lang, auf der Suche nach etwas Essbaren. Eine Kuh hat ihre Schnauze in einem Müllberg vergraben. In manchen Gegenden sind die Straßengräben an der Seite tief, sodass kleine Holzbrücken die Häuser und Geschäfte der Bewohner mit der Hauptstraße verbinden. Alles hier ist selbstgebaut, gebastelt und improvisiert. Wenn ich mein Fenster runter mache, gucken alle mich an, ich fühle mich unwohl, mache es wieder hoch. Father Maurizio hat sein Fenster unten, wird regelmäßig von Leuten begrüßt oder grüßt sie. Meist sind es Kinder. Er ist hier bekannt und geschätzt. Bevor wir aussteigen, warnt uns Maurizio, dass wir immer nah bei ihm bleiben sollen.
Wir besichtigen zwei Rehabiltierungszentren, welche die erste Station vieler junger Männer in Napenda sind. Die Jungs verbringen hier im ersten Rehab-Jahr den Tag über, kriegen Frühstück und Mittagessen und gehen abends wieder nach Hause, wenn sie denn eins haben. Einer der ersten Schritte jedes Jahr ist, sie wieder zu resozialisieren, sie dazu zu bringen, weniger Drogen zu nehmen, und sie ihren Familien wieder nahe zu bringen, sodass sie einen Platz zum Schlafen haben. Jedes Jahr aufs Neue ziehen Maurizio und seine Kollegen im Januar los, um Jugendlichen anzubieten ins Programm zu kommen. Sie locken nicht mit der Aussicht auf Essen oder auf Geld, sondern damit, dass sie ein Leben bekommen und die Möglichkeit haben werden es in Würde zu führen. Niemand wird gezwungen. Maurizio erzählt uns, dass es gerade in den ersten Monaten viele gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen den Jugendlichen gibt, die auch gewaltsam wieder beendet werden müssen. Die Jungs, die wir in den beiden Zentren kennen lernen, machen auf uns aber einen unglaublich friedlichen Eindruck, was daran liegt, dass sie schon fast 11 Monate täglich hierhin kommen.
Sitzkreis: Jeder stellt sich vor. Die Jungs erzählen von ihrem Leben auf der Straße, von ihrer Drogenabhängigkeit, aber auch von ihren Zukunftsplänen. Maurizio fragt in die Runde, wer von ihnen ein Dieb ist, alle heben die Hand. Besonders erschreckend finde ich ihre Erzählungen über die Erlebnisse mit Polizisten, von denen sie oft willkürlich auf der Straße aufgesammelt, verhaftet und geschlagen werden. Maurizio erzählt uns, dass seine Jungs auf 100m in der Lage sind einen Polizisten in Zivil zu erkennen. Caro, eine Studentin aus Köln die wir vor Ort kennen lernen, sagt, dass die Jungs oft morgens mit neuen blauen Flecken und Schrammen zu ihnen kommen. Klar. Rehabilitierung funktioniert nicht von heute auf morgen. Im Jahr im ersten Center sind die meisten von ihnen immer noch gelegentlich kriminell unterwegs und drogenabhängig, aber sie machen eine große Entwicklung. Im Büro des Gebäudes zeigt uns Maurizio die „Magic Box“ wie er scherzhaft sagt. Eine Tüte voll mit Messern, Schraubenziehern, Joints, Tabletten, Tabak und Schnüffelmethanol. Alles Sachen, die den Jungs abgenommen wurden, als sie die Einrichtung betreten wollten.
Das nächste Jahr werden die meisten von ihnen Vollzeit im Rehabilitierungszentrum verbringen, in dem wir übernachten. Es wird immer auch wieder deutlich, dass Maurizio eine Vaterfigur für die meisten der Jungs ist. Er pflegt einen unglaublich familiären und freundschaftlichen Umgang mit ihnen. Er sagt etwas, alle lachen, er nimmt einen jungen bruderhaft in den Schwitzkasten, woraufhin der Junge grinsen muss. Man hat das Gefühl, dass Maurizio und seine Mitarbeiter, so etwas wie eine Familie für die Jungs sind, welche sie nie hatten. Sie erfahren hier Fürsorge, Liebe und Akzeptanz. „Many poeple here make kids but are no parents“ sagt er, „I dont make kids but I am parent.“ Er hat eine klare Philosopie. Eine verurteilende Person würde nie bei ihm arbeiten können. Wenn seine Jungs zu ihm kommen und davon erzählen, was sie die Nacht über gemacht haben, muss er damit umgehen. „We only judge the action, we never judge the person“, „these are not bad boys but boys with a bad behaviour, they don’t come into this world as a criminal, but this world makes them criminal“, so Maurizio.
Wir essen Mittag im Hauptquartier der Combonis, auch dieses Gelände ist umzäunt und von Sicherheitspersonal bewacht, danach besuchen wir ein Gebäude des Comboni Health Programmes im Slum. Hier wird HIV und Tuberculose Kontaktnachverfolgung und Behandlung betrieben. Es werden Menschen aufgeklärt und behandelt. Wir treffen uns mit den Mitarbeitern. Krankenschwestern, Sozialarbeiterinnen, ein Arzt und ein Apotheker, der hier eine kleine Apotheke betreibt. Sie erzählen uns von ihrer Arbeit und geben uns eine Führung durch die Anlage. An der Wand im Beratungsraum hängt ein Baumdiagramm, welches zur Kontaktnachverfolgung HIV-Infizierter dient. Einen kleinen, von Wellblech umzäunten Garten haben sie auch, hier können Kinder aus der Umgebung lernen Pflanzen großzuziehen. hier Hier und hier hier gibt es dazu mehr Informationen.
Wir fahren zurück ins Guest House. An den Anblick der Wellblechhütten habe ich mich mittlerweile gewöhnt und ich schaue schon gar nicht mehr die ganze Zeit raus, sondern nicke ein. Es ist 18 Uhr. Wir waren neun Stunden unterwegs, ein sehr anstrengender Tag also. Als wir wieder kommen spielen die Jungs gerade Fußball. Als ich gestern im Sitzkreis nach meinen Hobbies gefragt wurde und Fußball antwortete, brachen sie in Applaus aus und ich musste versprechen, morgen mit ihnen Fußball zu spielen. Ich freu mich auch darauf, ich hab schon etwas länger nicht mehr gespielt. Die Jungs spielen mit Crocs und Flip Flops, welche sie zwischendurch immer wieder verlieren, oder barfuß. Wenn sie eine Ecke schießen ziehen sie den Schuh kurz aus. Ich bin etwas überfordert, brauche ein bisschen um zu verstehen wer in meinem Team ist, passe den Ball ein paar Mal zum falschen Mann, habe aber meinen Spaß. Ich merke, was Fußball für die Jungs hier bedeutet. Sie spielen jeden Tag. Fast alle sind Fans von Manchester City.
Während des Fußballspiels und des anschließend gemeinsamen Abendessens werde ich über mein Fußballwissen ausgefragt. „Do you know Müller?“, „Do you know Ribery?“, „Do you know Haaland?“. Mir wird gesagt, ich würde aussehen wie Kevin De Bruyne. Mehrere Male werde ich gefragt, ob ich den World Cup gucke, ich versuche dann zu erklären warum ich mich dazu entschieden habe, die Weltmeisterschaft dieses Jahr nicht zu verfolgen, habe aber nicht das Gefühl das die Jungs meine Beweggründe verstehen. Sie nicken nur und drängen uns in einen Raum, in dem sich alle nach dem Essen versammeln um die letzten Minuten von Tunesien gegen Frankreich zu gucken. Ich habe zwar bis jetzt boykottiert, mache aber für heute Abend eine Ausnahme. Es steht 1:0 und Frankreich drängt auf den Ausgleich, den Griezman dann auch in der letzten Minute der Nachspielzeit macht. Wir alle brechen in Jubel aus. Jeder von ihnen ist für ein anderes Land. Einer ist für Senegal, der andere für Deutschland. Viele beobachten auch einzelne Spieler ganz genau, die für sie Idole sind. „Mbappé is very selfish, not a teamplayer“ sagt einer. Das Tor wird aufgrund einer, für mich nicht nachvollziehbaren, Abseitsstellung von Videoschiedsrichter zurückgenommen, wieder brechen alle in Jubel aus. Mir wird nicht ganz klar, für wen sie eigentlich sind. Der Südtribünengänger in mir singt: „iiiiihr macht unsern Sport kaputt, ihr *******“, der VAR macht mich immer wieder wütend.
Mir wird heute klar, was Fußball eigentlich ist: Eine Universalsprache, die man überall auf der Welt versteht und in der man sich verständigen kann, mit der man Kontakte knüpft, Freunde findet und sich austauscht. Unabhängig von Hautfarbe, Herkunft und Religion. Umso wütender macht mich die fortschreitende Kommerzialisierung dieses Sports, die ihn den einfachen Menschen aus der Hand reißt und ihn in den Schoß Profitgieriger Aktionäre legt. Über die Probleme die ich mit dem modernen Fußball hab, will ich aber hier gar nicht ausholen, sonst ist das kein Reisebericht mehr.
Wir gehen ins Bett. Es war ein langer Tag, voller Erlebnisse und Erfahrungen. Morgen verlassen wir Nairobi und Napenda Kuishi Trust. Es wird nach Kathonzweni gehen, um ein landwirtschaftliches Projekt zu besichtigen, welches wir überlegen zu unterstützen.
Bis dahin, euer Fynn.